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Philippe Foray

Autorität in der Schule

1. Autorität: eine Eigenschaft der Lehrperson

Autorität ist ein Mittel, die für das schulische Arbeiten erforderliche Disziplin herzustellen (Durkenheim 1902/1992, S. 130). Autorität ist hier nichts anderes als die Macht, Gehorsam durchzusetzen. Jedoch ist sie eine „moralische Macht“, das heißt eine Macht, ohne Gewaltanwendung.
(Foray 2007, S. 616)
Aus pragmatischer Sicht ist Autorität die Pflicht der Lehrenden, den geordneten Ablauf des Klassengeschehens zu garantieren und bei Bedarf zu sanktionieren (Barrère 2003, S. 73). Es gibt demnach 2 Arten von Autorität: Die Autorität als Eigenschaft der Person und die Autorität, die man aufgrund der verliehenen Stellung bekommt. Diese beiden Formen wirken jedoch gegensätzlich.
(Foray 2007, S. 616)
Für Durkheim war Autorität, als Mittel Disziplin zu schaffen, sogar Hauptträger der moralischen Erziehung. Diese These widerspricht jedoch dem Ideal der Partnerschaftlichkeit und der freien Kommunikation und setzt Grenzen und verhängt Verbote. Die Untersuchungen von Jean Piagets zur moralischen Entwicklung des Kindes weisen diese negative Dimension der Erziehung zurück.
(Foray 2007, S. 617)
Heute werden die schulische Ordnung und somit auch die Autorität regelmäßig in Frage gestellt. Was ermächtigt einen Erwachsenen Autorität über Jugendliche einzufordern? Die Antwort ist klar: Das Überleben der Gesellschaft hängt von Bildung und Erziehung ab und dies erfordert staatliches Handeln. In der Primärschule ist die Autorität genügend legitimiert durch den Abstand zwischen Kind und Erwachsenen. In der Oberschule sind die Schüler sich der Bedeutung der Schulbildung in Bezug auf ihre Zukunft bewusst. Im collège jedoch liegt die Zukunft noch in weiter Ferne und die Autorität wird nicht mehr selbstverständlich anerkannt. Hier ist die Rechtfertigung der Autorität oft problematisch.
(Foray 2007, S. 617f)
Es ist nicht notwendig sich mit Autorität bei Schutzbefohlenen durchzusetzen bzw. sie zum Lernen zu bringen. Hierfür gibt es zahlreiche Mittel. Auf der pragmatischen Ebene stellt sich die Frage nach einem gewissen Relativismus. Fragen der Autorität und der Disziplin stellen sich je nach Schultyp oder geographischer Lage usw. anders. Die Wahl der pädagogischen Mittel hängt somit von den Umständen und Personen ab. Anders liegen die Dinge bei den intellektuellen Tätigkeiten. Autorität hat im Akt des Lernens prinzipiell keinen Platz.
(Foray 2007, S. 618f)

2. Eine Erziehung ohne Autorität und Strafe?

Jean-Jacques Rousseau behauptet, dass Autorität das Gegenteil von dem bewirke, was sie bezwecke. Neu an diesen Überlegungen ist die Bedeutung der Perspektive des Kindes. Er zeigt, dass es nicht genügt zu sprechen und dass der Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern zu zahllosen Missverständnissen führt. Er fordert die Vokabel „gehorchen“, „befehlen“, „Pflicht“ und „Schuldigkeit aus dem Wortschatz des Kindes zu streichen. Rousseau schlägt vor der trügerischen Autorität die natürliche Notwendigkeit des Zwangs vorzuziehen. Wenn die Autorität aus dem Bereich der moralischen Erziehung verbannt wird, wird sie es auch aus dem der geistigen Entwicklung. Rousseau steht am Anfang eines pädagogischen Denkens, das besonders Wert auf die Eigenaktivität des Schülers legt. Wer die Autorität in der Erziehung abschaffen will muss, v.a. zeigen, dass sie nicht einfach eine Form der Autorität durch eine andere ersetzt wird.
(Foray 2007, S. 619f)

3. Die statusbedingte Autorität des Lehrers

Der Verlust der Autorität geht keinesfalls mit einem Gewinn an Freiheit für Schüler einher. Laut Gauchet (2002a) ließe sich der Wandel im Umgang mit Kindern an 2 Aspekten festmachen: am Bewusstsein des kindlichen Andersseins und an der Bestätigung des Kindes als Rechtsperson. Von dem Augenblick an, wo das Kind als freies Wesen und seine Erziehung als Hilfestellung bei der Erlangung von Autonomie aufgefasst würden, werde die Ausübung von Autorität fragwürdig. Das veränderte Verhältnis der Gesellschaft zur Kindheit bedeutet einen größeren Zugriff der Erziehung auf die Kindheit. Diese Behauptung lässt sich mit der Dauer der Schulzeit, die sich durchschnittlich verdreifacht hat, stützen. Wenn die Erzieher zugunsten größerer Eigeninitiative Autorität abgeben, wird das zwangsläufig durch eine Verlängerung der Schulzeit ausgeglichen.
(Foray 2007, S. 621f)
Bourdieu und Passeron führten eine Untersuchung durch. Sie schreiben, Autorität diene dazu, die Herrschaft zu verbergen, die dem erzieherischen Handeln zugrunde liege. Die Gültigkeit der Theorie ist abhängig von der Gültigkeit der Thesen, Erziehung sei nichts als die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse und die Bildungsinhalte seien ein Spiegelbild „kultureller Willkür“.
(Foray 2007, S. 622f)

4. Die unpersönliche Autorität der Kultur

Gauchet hat die Frage knapp beantwortet:“ Autorität ist immer da. Erziehung gibt es, weil es Autorität gibt.“ Er unterstreicht die Bedeutung der Gesellschaft als Quelle aller Autoritäten. Wenn es Autorität gebe, liege es daran, dass „man im erzieherischen Prozess mit dem konfrontiert wird, was sich einem aufdrängt, mit der Kultur, in die man hineinwachsen muss“ (a.a.O., S. 25). Die Autorität ist die Autorität der Sprache. Renaut hebt hervor, Autorität im Allgemeinen könne die Macht, die sie beanspruche, nur unter der Bedingung “steigern“, dass sie an eine Form von „Transzendenz“ gebunden sei und er nennt drei solcher Formen: die göttliche Herkunft, die natürliche Ordnung der Dinge und die Macht der Überlieferung (2004, 46ff.). Weil die Welt der Vergangenheit entstamme, müsse sie an künftige Generationen weitergegeben werden. Sollte es also angebracht sein, von einer Transzendenz der Welt und der Kultur zu sprechen, kann das im Sinne eines zeitlichen Vorgehens gemeint sein. Hannah Arendt wusste schon 1958 das Problem der Autorität zu definieren: „Das Problem der Erziehung liegt darin, dass sie der Natur der Sache nach weder auf Autorität noch auf Tradition verzichten kann, obwohl sie in einer Welt vonstatten geht, die weder durch Autorität strukturiert noch durch Tradition gehalten ist“ (1994, S. 275). Für sie war die Lösung die Unabhängigkeit des Bildungs- und Erziehungswesens von politischen und sozialen Entwicklungen zu erhalten und sich dafür einzusetzen.

 

Überlegungen zu ihrer Systematik im Lichte der französischen Erziehungsphilosophie

„In zahlreichen Bereichen des sozialen Lebens – in der Wohnsiedlung, am Arbeitsplatz, in der Paarbeziehung und schließlich in Familie und Schule – stehen unsere Beziehungen zu anderen zunehmend unter dem Einfluss der Überzeugung, dass “alle Menschen gleichartig und gleichwertig” (Renaut 2004, S. 11; Übers.A.S.) seien“. Jedoch kann man sogleich eine Ungleichheit zwischen Lehrer und Lernenden erkennen und dies liegt dadurch im Widerspruch. Dadurch wird im Grunde von einer „Krise der Autorität“ in der demokratischen Erziehung gesprochen (Renaut a.a.O., S. 19). Nun ist die Frage, ob man sich einerseits die Rückkehr der traditionellen Autorität wünscht, oder eine Abschaffung jeder Ungleichheit in der Erziehung (vgl. Foray 2007, S. 615).

Autorität: eine Eigenschaft der Lehrperson

Steht man als Lehrer am Beginn des Berufslebens hat Autorität mit den Zielen der Erziehung nichts zu tun, sondern ist eher an praktische Erwägungen geknüpft. Laut Emile Durkheim ist Autorität „ein Mittel, die für das schulische Arbeiten erforderliche Disziplin herzustellen“ (Durkheim 1902/1992, S. 130). Autorität ist in diesem Fall nichts anderes als die Macht, Gehorsam durchzusetzen. Jedoch ist es eine „moralische“ Macht, das heißt, dass sie nur wirkt, wenn sie von denjenigen anerkannt und ausgeübt wird (vgl. Foray 2007, S. 616).
Die Pflicht des Lehrenden sollte sein, einen geordneten Ablauf des Klassengeschehens zu garantieren und im Bedarf auch zu sanktionieren. Wenn man mündlich verwarnt wird, ist dies eine Sanktion, erinnert aber noch an die eigentliche Regel, gegen die verstoßen wurde. Wird eine Strafe auferlegt, ist diese Sanktion eine Ausübung von Zwang (vgl. Foray 2007, S. 616).
Durkheim bezeichnete die Autorität als Hauptträger der moralischen Erziehung, da sie ein Mittel war um Disziplin zu schaffen. „Die meisten Lehrenden haben kein moralisches Konzept von Disziplin, sondern einfach ein „instrumentelles“, das zu ihrer Legitimierung vollkommen ausreicht“ (Prairat zit. nach Foray 2007, S. 617). „Disziplin wird in dem minimalen Maße gefordert, wie es die Ermöglichung schulischen Arbeitens erfordert“ (Foray 2007, S. 617). Durkheim spricht davon, dass Kinder von Erwachsenen diszipliniert werden müssten, jedoch ist dies für Jean Piaget sehr widersprüchlich, da dies vorgebe, “ auf dem Weg eines „einseitigen Zwangs“, ein autonomes Individuum formen zu können, das zur „freien Kooperation“ fähig sei (Piaget zit. nach Foray 2007, S. 617) (vgl. Foray 2007, S. 617)
Heute stellt sich die Frage, „was ermächtigt einen Erwachsenen, Autorität über eine Gruppe Kinder oder Jugendlicher einzufordern, um sie für eine beträchtliche Zeit Dinge tun zu lassen, die nur wenige von ihnen auch allen tun würden?“(Foray 2007, S. 618). Die Antwort darauf ist, dass das Überleben der Gesellschaft von der Bildung und Erziehung abhängig ist, somit erfordert dies staatliches Handeln. Als Beispiel: in der Primarschule in Frankreich (zwei bis elfjährige Kinder) ist die Autorität des Lehrers genügend legitimiert, es herrscht ein großer Abstand zwischen Kind und Erwachsenen und es werden fundamentale Fähigkeiten vermittelt. In der Sekundarschule sieht des schon anders aus. Die meisten Schüler haben eine zweckorientierte Einstellung zu ihrer Schulbildung. Die Gymnasiasten beugen sich der Autorität, der sie sich ausgesetzt sehen, weil sie sich der Bedeutung der Schulbildung für ihre spätere gesellschaftliche und berufliche Eingliederung bewusst sind. Die Kompetenz des Lehrenden gilt hier als Quelle der Autorität (vgl. Foray 2007, S. 618).
Die Mittel Schüler zum Lernen zu bringen sind vielfältig. Neben der Autorität gibt es auch noch folgende alternative Mittel wie zum Beispiel: die Qualität der Unterrichtspraktiken, die Freude am Lernen, verschiedene Arten der Motivation etc. Die Fragen der Autorität und der Disziplin stellen sich je nach Schultyp, geographischer Lage, Disziplin der Klasse etc. Die Wahl der pädagogischen Mittel hängt somit von den Umständen und Personen ab (vgl. Foray 2007, S. 619)
Die Autorität hat einen Platz in der erzieherischen Beziehung, jedoch hat sie keinen im Akt des Lernens prinzipiell. Wichtig ist, dass der Lehrer immer wieder darauf hinweist, dass der Wert des Lernstoffes auf seiner inneren Logik beruht und nicht darauf, dass er von einer Autoritätsperson vermittelt wird (vgl. Foray 2007, S. 619).

Eine Erziehung ohne Autorität und Strafe?

Laut Jean-Jacques Rousseau in EMILE hat die Autorität in der Erziehung keinen Platz, denn das Vernünftige sei kontraproduktiv. Mit Kindern sollte man keine Sprache sprechen, die sie nicht verstehen, dadurch würden sie nur Gehorsam vortäuschen, lügen etc. Wichtig ist die Perspektive des Kindes. Man sollte die der Autorität die schlichte Kraft vorziehen und die moralische Beeinflussung durch die natürlich Notwendigkeit des Zwangs ersetzen. „Das Kind soll merken, dass es schwach ist, ihr stark seid und dass es in seinem Zustand von eurer Güte abhängig ist“ (Roussou zit. nach Foray 2007, S. 620). Jedoch steht Rousseau auch dafür ein, dass die Eigenaktivität des Schülers sehr wichtig ist und dass diese eher sein Interesse und seine Lust am Denken weckt, anstatt in mit Lehren zu überschütten. Rosseau und die heutigen Lehrer sind der Meinung, dass Autorität in der Entwicklung der intellektuellen Autonomie keinen Platz hat (vgl. Foray 2007, S. 620 f)
Wer die Frage nach Autorität wegschieben möchte, muss sich fragen, ob er sie nicht durch eine andere Form der Autorität wieder versucht zu ersetzen (vgl. Foray 2007, S. 621)

Die statusbedingte Autorität des Lehrers

Laut Gauchet ist es sehr schwierig die Ausübung der Autorität beizubehalten, wenn das Kind als freies Wesen betrachtet wird und seine Erziehung als Hilfestellung bei der Erlangung von Autonomie aufgefasst würde. Die Schulzeit hat sich zwischen dem 20. Jahrhundert und dem 21. Jahrhundert ca. verdreifacht , man sollte dadurch nicht nur die Lehrer-Schüler-Beziehung und den Wandel der Autorität ins Auge fassen. Die Bildungsrealität zeichnet sich im Wandel der Autorität und in der Ausweitung des Bildungssystems gleichzeitig ab. Je mehr die Zukunft unvorhersehbar ist, desto mehr sollte man auf die Autonomie der zukünftigen Erwachsenen setzen und davon ausgehen, dass das Überleben von der Bildung abhängt (vgl. Foray 2007, S. 622).

Die unpersönliche Autorität der Kultur

„Autorität ist immer da“ laut Gauchet, er schreibt. „Erziehung gibt es, weil es Autorität gibt“ (Gauchet zit. nach Foray 2007, S. 623). Die Frage stellt sich, mit welcher Form von Autorität die Schüler konfrontiert werden sollten? Weiters meint er, dass Autorität auf alle Fälle von unserem Umfeld, der Kultur- in die wir hineinwachsen- abhängt. Es geht nicht um die vielen literarischen Werke, sondern um das, was uns umhüllt und von allen Seiten beherrscht. Weiters meint Gauchet: „Die Autorität der Kultur ist die Autorität der Sprache: „Der Mensch muss erzogen werden, vor allem weil er in einer Kultur lebt, genauer gesagt in einer Sprachkultur“ (Gauchet zit. nach Foray 2007, S. 624).

 

Quelle

Foray, P. (2007). Autorität in der Schule, Überlegungen zu ihrer Systematik im Lichte der französ. Erziehungsphilosophie.Zeitschrift für Pädagogik, Jahrgang 53, Heft 5, 615-626. Beltz


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